Lokale Wirtschaftsförderung

Vierzig Stunden die Woche sitze ich im GTZ-Büro, das schon seit vier Monaten. Wenn ich selten darüber schreibe, dann nicht weil ich Freizeit Freizeit lassen will. Nie zuvor hat mir ein Job so gut gefallen, wie der hier in Namibia. Nie zuvor war es so einfach morgens aus dem Bett zu kommen, nie zuvor so schwer um Punkt fünf das Buero zu verlassen. Doch es ist schon die letzte Woche.

So spannend jeder einzelne Tag zwischen Städtebudget, Unternehmenszensus und lokaler Wirtschaftsförderung auch gewesen ist, ein klares Highlight war die Geschäftsreise der letzten Woche. Es ging in den Norden Namibias, an die Grenze zu Angola. In die Gebiete, die nicht entwickelt sind, hinter den Horizont der für das Land wichtigen Pauschaltouristen.
Zusammen mit Harald, meinem Chef, Eckart, einem Consultant und Fritz, unserem namibianischen Fahrer, sitze ich im Auto. Unterstützt von der GTZ werden in Eeenhana sowie in Helao Nafidi PPDs durchgeführt. Public Privat Dialogues – der Versuch Stadtverwaltung und lokale Unternehmer an einen Tisch zu bringen.

Nach achtstündiger Autofahrt kommen wir übermüdet und hungrig an. Durch diese Bedingungen verstärkt bekomme ich zu spüren was es heißt in Namibia Politik zu machen. Die für die Begrüßungsrede eingeladene Bürgermeisterin Eenhanas lässt sich Zeit. Erst 90 Minuten nach offiziellem Beginn der Veranstaltung taucht sie auf. „Es ist eine Frage des Respekts“, erklärt Eckart. „Wer zu spät kommt wirkt wichtig und wird respektiert“. Der Rest der Veranstaltung verläuft relativ gut. Unternehmer tragen Anliegen vor, der Stadtrat reagiert. Nach vier Stunden beendet Eckart, der als Vermittler agiert, die Diskussionen. Es war ein erfolgreiches erstes Treffen und es ist klar, dass seitens der Unternehmer noch Redebedarf besteht, der viele weitere füllen könnte.

Spannender noch wird es am nächsten Tag in Helao Nafidi. Dieses Mal ist es der Vorstand der nationalen Industrie- und Handelskammer, der sich Zeit lässt. Zwar hatte er beim Mittagessen noch neben uns gesessen, doch zu Beginn des PPDs taucht er nicht auf. „Ich bin jetzt unterwegs“, sagt Tara, als wir ihn anrufen. Dieselbe Antwort auch eine halbe Stunde später, der Weg vom Restaurant bis zum Veranstaltungsort ist gerade einmal 2 Kilometer lang. Dann endlich steht er in der Tür, begleitet von zwei auffällig modisch gekleideten Assistentinnen. Ein ausdrucksstarkes Bild.
Die Gespräche heute finden in einem Gästehaus auf dem Grundstück der alten Namundjebo Farm statt. Der große Saal wirkt bedingt durch sein Strohdach ein wenig wie eine Scheune. Es ist dunkel im Inneren, quietschend drehen sich die Ventilatoren hoch oben an der Decke. Wieder sind zahlreiche Unternehmer gekommen. Neben den vielen Kleinstunternehmern sind heute auch ausländische Vertreter anwesend. Ein stämmiger Libanese sitzt schräg vor mir, ihm gehört faktisch die halbe Grenzstadt Oshikango, wie ich später erfahre. Von den Chinesen, die inzwischen in ganz Afrika Geschäfte aufbauen, ist niemand gekommen. Während ihre großen Fabrik- und Lagerhallen die kleinen Städte dominieren, halten sie sich selbst im Hintergrund - Non-Interference, die Nicht-Einmischungspolitik.

Schon kurz nach Beginn ist am heutigen Abend klar, dass die vier Stunden nicht reichen werden um alle Fragen zu beantworten. Fast alle Diskussionen drehen sich um die Landreform. Wer hat das Recht auf welches Stück Land? Es ist die Frage, die in Afrikas jüngster Geschichte mehr als einen Staat zerrissen und in den Bürgerkrieg geführt hat. Doch hat Namibia, als eines der weiter entwickelten Länder Afrikas, nicht schon längst die passende Antwort auf das Problem gefunden? Ich erinnere mich an die Worte Eckarts: „Es ist eine Zeitbombe.“

Mit der Unabhängigkeit Namibias wurde beschlossen eine Umverteilung des Landes vorzunehmen. Aus den Händen der Weißen, die im Zuge der Kolonialisierung unrechtmäßig weite Teile des Landes in Anspruch nahmen, sollte es wieder zurück an die Schwarzen gehen. An den kleinen Mann, Familien, Subsistenzfarmer. Zimbabwe diente diesbezüglich als Vorbild, doch werden Weiße in Namibia nicht gewaltsam vertrieben, sondern ausgezahlt. Der Staat kauft Land auf und gibt es an die Einwohner weiter. Doch an dieser Stelle taucht unweigerlich eine Parallele zu Zimbabwe auf. Die großen, zuvor durch Weiße betriebenen, Farmen sind jetzt in der Hand von Einheimischen unerfahrenen Bauern. Ihnen fehlen Bildung und Resourcen, viele Farmen verkommen, Ernten reduzieren sich auf ein Minimum. Ein Rückschlag für die Wirtschaft des Landes zu Gunsten der ethnischen Gerechtigkeit.

Wie kann Landbesitz überhaupt zu einem Problem werden in einem Staat der die doppelte Größe Deutschlands besitzt aber nur 2 Millionen Einwohner beherbergt? Es geht um die Städte. Zuvor von traditionellen Regierungen regulierte Gebiete werden auf einmal zu Städten erklärt und deren Stadtgrenzen scheinbar willkürlich gezogen. Auf einmal befinden sich Farmer in der Stadtmitte wieder, das Recht auf ihr Land verlieren sie damit an den Staat. Sie sollen umsiedeln, bekommen aber eine Entschädigung. 80.000 namibische Dollar, das sind ca. 6.500 Euro. Vielleicht ein fairer Preis, doch schon am nächsten Tag verkauft die Stadt dasselbe Grundstück für 1.5 Millionen N$ an einen der Schlange stehenden Unternehmer. Die Landbesitzer wissen das, unweigerlich entsteht so eine Schattenwirtschaft. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn unter den Schatten der Bäume am Straßenrand verhandeln Farmer und Investor nun direkt, die Stadtverwaltung bleibt außen vor. So gehen der Stadt schnell die zu verkaufenden Grundstücke aus, ehrliche Kleinunternehmer haben keine Chance.

Heute Abend stehen sie auf. Schon bald bemüht sich niemand mehr Englisch zu reden, auf Oshivambo koennen sie ihren Ärger besser ausdrücken. Eckart, der beide Sprachen beherrscht, muss mit vollem Einsatz zwischen den Parteien vermitteln. Ein Kompromiss wäre die Lösung, Unternehmer und Stadt sollten sich zusammentun und gemeinsam einen fairen Preis an die Landbesitzer zahlen. Doch die Vertreter der Stadt bleiben stur. Ihnen seien die Hände gebunden, alles sei auf nationale Gesetzgebung zurückzuführen.

„Nationale Gesetzgebung“, Eckart und Harald lachen vielwissend, als wir spaeter mit einem Bier im Garten einer Kneipe sitzen. „Die Korruption ist der Grund. Sobald die Abwicklung der Landreform nicht mehr allein über die Stadtverwaltung läuft, können sie nicht mehr abkassieren. Niemand hat Interesse daran etwas an der jetzigen Situation zu ändern. Sie stecken alle mit drin.“

Einzig der finanzstarke Libanese hatte den Mut diese Wahrheit auszusprechen. Als er gefragt wurde, was seiner Meinung nach der Grund für die aktuelle Situation sei, antwortet er: „Schlechtes Management. Ich bin seit 22 Jahren hier, nichts hat sich geändert. Hoffnungslos. Man sollte sie alle entlassen. Ein neues Management.“ Der Stadtrat schweigt. Erst als Harald aufsteht und anbietet, dass die GTZ einen unabhängigen Berater in die Region schickt, der nach möglichen Lösungen sucht, kommt die Diskussion zu einem Ende.

In der Menge sitzt ein unauffälliger alter Mann mit weißem Bart. Er beteiligt sich nicht am Dialog, doch er beobachtet. „Der Spion der SWAPO“, erklärt Eckart später. „Der hat ganz genau beobachtet, wer sich wie geäußert hat.“ Namibia ist ein ein-parteien-Staat. Aus der Unabhängigkeitsbewegung hat sich die SWAPO entwickelt, die das Land heute regiert. Es gibt andere Parteien, doch ist ein SWAPO Wahlsieg mit 99% der Wählerstimmen keine Seltenheit. Erst vor einigen Wochen hat ein führender Minister der SWAPO dazu aufgerufen Andersdenkende auszugrenzen. Wähler der Opposition sollen gemieden und in ihren Geschäften nicht eingekauft werden. Eine Aussage, die allzu deutlich an die Deutsche Geschichte erinnert. Man hört die Zeitbombe ticken.

Der stellvertretende Bürgermeister beendet an diesem Abend den Public Privat Dialoge. Offensichtlich spricht er kaum Englisch. Wort für Wort muss er die für ihn vorbereitete Rede vom Papier ablesen. Ich sitze im Publikum und komme mir vor wie in der zweiten Klasse Sprachunterricht. Doch dies ist Politik in Afrika und genau aus diesem Grund ist sie so spannend, die Arbeit bei der GTZ. Es muss von ganz vorne angefangen werden. Der stellvertretende Bürgermeister weiß um seine Vorbildfunktion, er spricht Englisch und nicht auf Oshivambo.

Besuch bei den Himba


Auf meinem Schreibtisch in Deutschland liegt ein großer Miserior-Kalender. Das aufgeschlagene Kalenderblatt zeigt zwei kleine Kinder mit rötlicher Hautfarbe inmitten einer Ziegenherde - „Himbamädchen in Namibia“. Der Kalender verbildlicht in vielen Belangen meinen Traum von Afrika. Den von einem vergessenen Kontinenten und unberührten Kulturen. Jetzt bin ich den Himba wirklich begegnet.

Der Blick in die Augen des Mädchens auf dem obigen Foto verrät annähernd die Spannung, die diese Begegnung für mich mit sich brachte. Es war die mit Abstand beeindruckendste und zugleich schwierigste kulturelle Erfahrung, die ich bisher machen durfte. Nur durch die Hilfe Halows, der uns einen Tag lang begleitet, schafften wir es einen Einblick in eine der ältesten Kulturen Namibias zu gewinnen.



Zurückgedrängt durch Kriege und beinahe vernichtet durch große Trockenheiten, leben die rund 5000 Himba heute in Nordwesten des Landes, dem Kaokoveld. Es ist ein Landstreifen, der nicht annährend mit Strom, Wasser und Straßen erschlossen ist. Unser Besuch gleicht einer kleinen Expedition.

Vielleicht war es den Himba gerade deswegen möglich, ihre Kultur der Globalisierung zum Trotz beinahe unverändert beizubehalten. „Das Leben ist immer noch das Gleiche, aber die Kinder können lesen und schreiben“, hört man eine alte Himbafrau sagen.

„Genau hier, bieg rechts ab“, Hallow zeigt auf einen schmalen, zwischen Büschen versteckten Pfad. Das dichte Geäst, das gegen unseren Wagen schlägt, deutet darauf hin, dass auf diesem Weg schon lange kein Auto mehr gefahren ist. Eine ganze Weile fahren wir buscheinwärts, weit weg von jeder größeren Ansiedlung. Schließlich signalisiert Halow, dass wir anhalten sollen. Zwischen den Büschen meint er ein kleines Dorf erkannt zu haben. Doch nur die grasfreien Flächen auf dem Boden deuten darauf hin, dass sich hier einmal Menschen gewohnt haben. Himba sind nomadische Viehzüchter, Jäger und Sammler. Angewiesen auf das knappe Gut Wasser, siedeln sie an immer wieder neuen Stellen.
Erst als wir noch einige Minuten weiter buscheinwärts fahren haben wir Glück. Versteckt zwischen den Büschen liegt eines der kreisrunden Himbadörfer. Die kleinen hügelförmigen Hütten umgibt ein aus Ästen errichteter Zaun. Doch das Dorf scheint verlassen. Einzig die herumlaufenden Ziegen zeigen, dass hier noch ein kleiner Himbastamm wohnt. Wir kehren um, ohne auf die Bewohner getroffen zu sein. Es schein unglaublich, dass die Himba hier, fernab jeder größeren Siedlung, überhaupt überleben können.

Einige abenteuerliche Autostunden später finden wir uns in einer belebteren Gegend wieder. Hier besuchen wir ein Himbadorf, das unweit der befahrbaren Schotterpiste errichtet ist. Als Gastgeschenk tragen wir mehrere Packungen Mehl und Zucker bei uns. Rohstoffe, die von größerem Wert sind als Geld.

Halow läuft vor und begrüßt die Dorfbewohner auf einer Sprache, von der wir kein Wort verstehen. Einladend lächeln die Himba uns an, als wir nachkommen. Wir wollen es mit Zeichensprache versuchen und winken zur Begrüßung. Doch die Reaktion ist anders als erwartet. Niemand winkt zurück, einige Himbakinder bleiben verunsichert stehen als hätten wir ihnen eine warnende „Halt-Stopp“-Hand entgegengehalten. Wir merken, dass an Kommunikation noch nicht einmal mit Gestik zu denken ist. Ohne den englischsprachigen Halow wäre es ein sehr kurzer Besuch geworden.


Als wir den Himba gegenueberstehen, kommen wir uns vor wie in einer anderen Welt. Sowohl Himbamänner als auch –frauen tragen keine Oberkörperbekleidung. Stattdessen wird eine aus zerriebenen Steinen und Tierfett gemischte Ockerfarbe als Sonnenschutz auf die Haut aufgetragen. Um die Lende tragen die Himba braune Stoffe und Tierleder. Die größte Bedeutung wird den Frisuren zugemessen. Junge Mädchen tragen zwei geflochtene Zöpfe über der Stirn - wenn sie mit 12 bis 14 Jahren das heiratsfähige Alter erreichen, lassen sie sich schulterlange Zöpfe wachsen, die mit der roten Ockerfarbe eingerieben werden (Foto). Dicke Schmuckringe am Hals unterscheiden jungfräulichen Frauen von den Müttern. Männer tragen Zöpfe auf dem Hinterkopf.



Wir sehen nur wenige Männer. Die meiste Zeit sind sie als Hirten mit Rinderherden unterwegs, oder sichten auf mehrtätigen Wanderungen Orte für die Umsiedlung des Dorfes. Die Frauen hingegen bleiben zu Hause. Sie versorgen die Kinder, bereiten Nahrung aus Maismehl und Ziegenmilch oder basteln die kulturell wichtigen Schmuckstücke. Zählen können die Himba nicht. Sie wissen weder, wie viele Menschen in ihrem Dorf leben, noch ihr genaues Alter.




Eine der älteren im Dorf lädt uns in eine der aus Dung gebauten Hütten ein. Im Inneren ist es stickig und warm. Das auf dem Boden ausgebreitete Rinderleder stellt ein Doppelbett dar. Die Frau nimmt eine Schale und entzündet darin eine Mischung aus trockenen Kräutern. Anschließend hebt sie ihren Rock an und kniet sich über die rauchende Masse - verschämt muss sie dabei lachen. Dass Ritual stellt den Waschvorgang der Himbafrauen dar. Der am Körper hinaufsteigende Rauch soll diesen von Keimen und Schmutz befreien. Himbafrauen ist es nicht erlaubt mit Wasser in Berührung zu kommen.

Zwischen der Hütte des Dorfoberhauptes und dem zentralen Kälberkral brennt das heilige Feuer Okuruwo. Es dient als Verbindung zu den Geistern der Verstorbenen und darf niemals erlöschen. Immer wieder treten die Dorfbewohner am Feuer mit ihren Ahnen in Verbindung. Diese vertreten den Gott Mukuru und bieten Unterstützung bei wichtigen Entscheidungen.

Ein kleines Mädchen milkt eine Ziege, in einer Hütte mahlt eine Frau Mais zwischen zwei Steinen zu Mehl. Die Himba leben von Milch und Maismehl. Manchmal wird eine Ziege geschlachtet, entweder als Opfergabe oder für eine reichere Mahlzeit. In selten Fällen auch eine Kuh.



Als ich das Foto einer Himbafrau mache, merkt diese, dass sie so ihre eigene Frisur sehen kann. Vielleicht zum ersten Mal - im Himbadorf gibt es keine Spiegel. Jetzt wollen auch einige andere Frauen Nahaufnahmen von ihrem Hinterkopf. Sie sind begeistert von den Bildern und sichtlich stolz auf ihre traditionellen Frisuren.
Dann werden sie neugierig. Sie wollen wissen wissen wo wir herkommen und woher wir uns kennen. Ich werde gefragt, wo meine Frau wohne und ob ich Kinder habe. Auf meine Antwort folgt Unverständnis. Eine der erwachsenen Frauen zeigt auf ein jüngeres Mädchen und fragt ob ich sie heiraten möchte. Doch auch die Himba müssen über dieses spontane Angebot lachen.



Abends fahren wir weiter in Richtung der Epupa Wasserfälle an der Grenze zu Angola. Halow bleibt in einem kleinen Dorf, das auf der Strecke liegt. Er bittet uns einen jungen Himba mitzunehmen, der in dieselbe Richtung unterwegs ist. Inzwischen ist es dunkel. Mehrmals auf der Fahrt fängt der Mann an zu gestikulieren, irgendetwas sagt er auf Himba. Doch wir verstehen weder Worte noch Gestik. Er gibt auf und lässt sich zurück in seinen Sitz sinken.
Als vor uns auf der Straße eine Rinderherde auftaucht, springt der junge Himba aus dem Wagen. Zunächst denken wir, er wollte die Herde von der Straße vertreiben. Stattdessen treibt er sie vor uns her. Wir steigen aus, um ihn zu fragen, was er vorhat. Wieder scheitern wir an der Sprachbarriere. Nach etlichen Verständigungsversuchen müssen wir aufgeben. Wir legen uns darauf fest, dass der Himba nicht zurück ins Auto kommen möchte und stattdessen bei der Herde bleibt. Vielleicht ist es seine.

Es war ein Tag, den ich nicht mehr vergessen werde. Nie hätte ich wirklich daran geglaubt, dass es inmitten eines modernen Landes wie Namibia noch so fremde Kulturen gibt. Nie hätte ich daran geglaubt, dass ich dem einmal so nah kommen würde. Bis heute – bis zu meinem Besuch bei den Hirten und Nomaden Namibias, den Himba.



Entfernungen


Es ist ein Land, in dem 1500 Kilometer zwischen der nördlichsten und der südlichsten Stadt liegen. Ob die 800 Kilometer in den Süden oder die 700 Kilometer an die angolanische Grenze in den Norden: Tagesstrecken - Entfernungen haben eine andere Bedeutung.

Autobahnen gibt es nicht, Landstraßen sind mit Schlaglöchern gespickt und die weit verbreiteten Schotterpisten sind oft von ausgetrockneten Flussläufen unterbrochen.
Auf unseren Wegen überholen wir Eselskarren, viele Menschen sind zu Fuß unterwegs.

Der Weg ist das Ziel, heißt es. Hier in Namibia ist er das im wahrsten Sinne des Wortes. Unterwegs erst stößt man auf die weit verstreut lebenden Menschen, man kann beobachten wie sich Landschaft und Klima im Minutentakt ändern, Straßenwarnschilder zeigen Warzenschweine oder Elefanten.



Immer wieder sieht man Menschen im Gras neben der Straße laufen. Meist barfuß und ohne Gepäck. Irgendwo versteckt hinter den Büschen muss es kleine Siedlungen geben. Die Menschen haben Zeit und Geduld um von einem Ort zum nächsten zu kommen. Manchmal stehen sie auch unter Straßenschildern oder Bäumen und warten darauf mitgenommen zu werden.

Je ländlicher die Gegend, desto ungewöhnlicher muss es für die Einwohner sein, dass Autos vorbeifahren. Immer wieder kommen Kinder aus den kleinen Siedlungen gelaufen. Sie kennen den kurvigen Verlauf der Straßen, wissen in welche Richtung sie laufen müssen um die passierenden Autos abzufangen. Von den wohlhabenden Touristen, die in diese abgelegenen Gegenden kommen, erhoffen sie sich ein wenig Geld oder Nahrungsmittel.





Noch lange nicht sind die Strecken vorbereitet auf den einzelnen Reisenden. Als wir vor zwei Wochen auf dem Weg in den Süden waren, kommen wir in die Kleinstadt Mariental. Die Tanknadel unseres Wagens steht mittig. Vorsichtshalber werfen wir noch einen Blick auf die Karte. „Kein Problem, bis nach Keetmanshoop müssten wir es eigentlich schaffen. Auf dem Weg liegen außerdem noch zwei weitere Tankstellen.“ Laut Karte. Eine Stunde später nähert sich die Tankfüllung dem Nullpunkt. Wir steuern den kleinen Ort an, in dem die nächste Tankstelle eingezeichnet ist. Geschlossen. Es gibt kein Benzin mehr, die Versorgung per Tanklaster ist längst überfällig.
Wir müssen lange suchen, bis wir die zweite auf der Karte eingezeichnete Tankstelle in einem weiteren kleinen Ort finden. Zwei Zapfsäulen stehen verlassen dar, es sieht nicht so aus, als ob hier in letzter Zeit Benzin verkauft worden sei. Wir fragen eine Frau, die uns beobachtet hatte. Es sei Wasser in die Benzintanks gekommen, man müsse jetzt darauf warten, dass Shell den Reparaturdienst schicke.


Wir stehen mitten in der Steppe, in einem kleinen Ort ohne funktionierende Tankstelle, die Tanknadel ist endgültig bei Null angekommen. Da es in dem Ort kaum Autos gibt, haben wir keine große Hoffnung jemanden mit vollen Benzinkanistern zu finden. Unsere Rettung ist schließlich ein Mann aus Windhoek, der hier heute Verwandte besucht. Mit einer alten Plastikflasche zapft er Benzin aus dem Schlauch seines Wagens ab. Fünf Flaschenfüllungen später haben wir wieder genug im Tank um es bis zur nächsten Stadt zu schaffen.

Unsere erste Reifenpanne haben wir an der Skeleton Coast, dem wahrscheinlich unfreundlichsten Landstreifen des Landes. „Die Hölle Namibias“ mach gut ein Drittel der gesamten Küstenstrecke aus. Wir kommen an ein Eingangstor uns müssen unser Auto registrieren bevor wir den unbewohnten Landstreifen befahren dürfen. Während wir noch am Morgen durch die pralle Sonne zwischen Giraffen und Springböcken gefahren sind, ziehen jetzt dichte Nebelschwaden auf, es wird dunkel und bitterkalt. Entlang der Küste liegen mehrere Wracks von Lastschiffen, die hier auf Grund gelaufen sind. Zu allem Überfluss finden wir Knochen und Totenschädel im dunklen Sand – willkommen an der Skeleton Coast. Dass sich einer unserer Reifen ausgerechnet hier verabschiedet, ist nach etlichen Bergetappen zuvor pure Ironie.
Wir kommen verspätet und bei völliger Dunkelheit im Camp „Mile 108“ an. Elektrizität gibt es hier nicht. Daran Holz zu suchen, ist in der nassen Sandwüste nicht zu denken. Aber ein Paket Feuerholz vom Betreiber des Camps rettet uns den Abend. Wir sitzen um das Feuer um nicht zu frieren, neben uns rauschen die Wellen des Atlantiks, in meinem Gesicht spüre ich den Sonnenbrand vom Morgen.



Als der Motor unseres Autos Mitten im Etoscha Nationalpark überhitzt, stehen wir vor einem völlig neuen Problem. Aussteigen können wir hier eigentlich nicht, vielleicht würden wir die Aufmerksamkeit eines Löwen oder Geparden auf uns ziehen. Doch wir, die wir noch nie einen Löwen in freier Wildbahn gesehen haben, können diese Gefahr nicht richtig ernst nehmen. Ohnehin haben wir keine große Wahl und das Risiko reizt. Zu zweit laufen wir mit leeren Wasserkanistern zu einem nahgelegenen Wasserloch. Dabei schrecken wir eine Herde Zebras auf, die gerade am Ufer trinkt. Die Tiere galoppieren einige Meter davon, bleiben dann aber hinter Bäumen stehen um uns zu beobachten. Schnell füllen wir die Kanister auf. Solange die Zebras noch ruhig um uns herum stehen, kann kein größeres Raubtier nah sein. Ein naiver Rückschluss und dennoch beruhigend. Für eine Weile herrscht verkehrte Welt am Wasserloch in Etoscha. Schließlich haben wir genug Wasser um den Motor zu kühlen. Zurück im sicheren Auto kann die Tour weitergehen.



Doch meistens läuft alles gut. Oft sitzen wir noch im Auto wenn die letzten Sonnenstrahlen das Land wärmend in rötliche Farben tauchen. Dann verschwindet die Sonne hinter dem Horizont und wir wissen warum Entfernungen in diesem Land gar keine sind: Jeder Kilometer ist völliges Neuland und wartet nur darauf entdeckt zu werden.



Die Kinder von Katutura


Und wieder ein Tag ohne Regen hier in Namibia. Uns strahlt die heiße Sonne ins Gesicht, während wir durch die staubigen Straßen Katuturas gehen. In meiner Hand habe ich eine Kamera. Die Kamera, die ich bisher aus Respekt zu Hause gelassen hatte. Aus Respekt oder eben auch aus Angst. Davor überfallen zu werden, davor ein falsches Bild bei den Menschen zu hinterlassen. Doch an diesem Samstag möchte ich Bilder mitnehmen. Ich möchte endlich versuchen das festzuhalten, was ich schon auf meinen bisherigen Township-Besuchen erlebt und gesehen habe: Das Miteinander der Afrikaner, das Leben in den Straßen und die fröhlichen Gesichter. Es ist ein kleiner Ausflug gegen alle Regeln. Mit einem öffentlichen Taxi in das ärmste Gebiet der Stadt - bepackt mit Wertgegenständen zu den Mittellosen.
Doch was wir erleben macht deutlich, wie sehr alle Warnungen auf Vorurteilen beruhen.

Wir tauchen ab im Tumult der Straßen. Gehen vorbei an den hölzernen Verkaufsständen der Einheimischen, auf denen kleine Mengen von Obst, Nüssen oder Chipstüten verkauft werden. Vorbei an den Barbershops, den unzähligen Shebeens (Kneipen), vorbei an den Blechhütten.


Zwei kleine Jungen rennen um die Wette. Sie schieben aus Draht gebastelte Rennautos vor sich her. Ein kleines Mädchen spielt mit ihren Geschwistern in einem ausrangierten Einkaufswagen. Als ich von der anderen Straßenseite aus ein Foto mache, lacht sie fröhlich in die Kamera. Sie hebt ihre kleine Schwester ein wenig höher und wartet darauf, dass ich noch einmal auf den Auslöser drücke.


Ein anderes Mädchen beobachtet uns und guckt verlegen herüber. Als ich dann auch von ihr ein Foto mache, sieht man in ihrem Gesicht, wie die Verlegenheit einem Gefühl von Stolz weicht. Für einen kurzen Augenblick steht sie ganz im Fokus der Aufmerksamkeit, dieser Moment ist offensichtlich ihrer.

Viele Kinder sind weniger schüchtern, schon bald kommen immer mehr herbeigelaufen. In Gruppen posieren sie vor der Kamera, kleine Finger greifen aufgeregt nach dem Display, als die Kinder sich selber auf den Fotos wiedererkennen.


Wir gehen weiter und kommen zur Villa Kunterbunt, einem kleinen Kindergarten. Auch hier zeigen sich die Kinder uneingeschränkt begeistert von den Fotos, auf denen sie selber zu sehen sind. Ein kleiner Junge fängt an zu weinen, da ihn seine Mutter auf dem Arm hält und er nicht mit auf das Bild kommt. Immer noch sichtlich verknittert guckt er dann in die Kamera, als ihn seine Mutter schließlich auf den Boden setzt.


Die Entscheidung an diesem Samstag die Kamera mit zu nehmen, war ein voller Erfolg. Nicht nur die Kinder sind begeistert, auch mit den Erwachsenen kommen wir so ins Gespräch. Sie wollen wissen, was wir im Township machen. Viele verblüfft es, dass uns das lebendige Treiben in den Armenvierteln schlichtweg interessiert. Die meisten von ihnen hat die Suche nach Arbeit in die Hauptstadt getrieben. Zur Selbstversorgung dienende Farmen im Norden Namibias werden aufgegeben, nicht zuletzt weil das unfruchtbare Land dazu zwingt. Doch für die meisten Ankommenden sind die immer größer werdenden Slums am Stadtrand die Endstation. Nur in seltenen Fällen schaffen die Menschen den Sprung in einen der wenigen gut bezahlten Jobs in der Innenstadt. Warum also ausgerechnet wir freiwillig unsere Zeit in den Slums verbringen, können sie nicht verstehen.


Am liebsten würde ich die Bilder nehmen, die ich heute gemacht habe und ihnen den Grund dafür in ihren eigenen fröhlichen Gesichtern zeigen. Doch ich glaube, sie würden es selbst dann nicht verstehen. Auf jeden Fall aber werde ich die Bilder denjenigen zeigen, die sich in der Stadt hinter ihren Mauern verschanzen, zum Einkaufen das Auto nehmen und nicht ein einziges Mal im Township waren. Es gibt eine moderne Apartheid - und sie lebt.

Als wir uns verabschieden und wieder Richtung Innenstadt gehen, stehen die Kinder noch vor ihren Hütten und winken uns begeistert hinterher.

Lebensträume

Die Giraffe und der kleine Pavian waren beste Freunde. Es gab kaum einen Tag, den sie nicht gemeinsam verbrachten. Der kleine Pavian bewunderte die Giraffe für ihre langen Beine, so elegant konnte sie durch das hohe Gras traben. Meistens sprang er einfach auf ihren Rücken und ließ sich tragen. Die Giraffe bewunderte den Pavian für seine Einfälle. Durch sein Geschick hatten sie schon oft die entlegensten Wasserstellen gefunden, seltsame Früchte von Bäumen gepflückt und mit Steinen geöffnet. Die Wissbegier des kleinen Pavians schien unersättlich.

Kaum tauchten die ersten Sonnenstrahlen die Wiesen in braun-gelbe Farben, kam der Pavian auch an diesem Morgen zur Giraffe gelaufen. Als er sah, dass diese ihre Augen noch geschlossen hatte, griff er nach ihrem Schwanz, hangelte sich auf den Rücken, kletterte ihren langen Hals hoch und stellte sich auf ihren kleinen Kopf. „Wach auf Giraffe, ich will die Welt mit dir sehen!“, rief er und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. Schlaftrunken öffnete die Giraffe ein Auge und blickte in das strahlende Gesicht ihres kleinen Freundes, der sich in diesem Moment vorbeugte. „Na los, lauf, Giraffe! Wofür hast du denn so lange Beine?“ Die Giraffe murrte, musste jedoch innerlich lachen. Sie liebte den kleinen Pavian. Ohne ein Wort zu sagen setzte sie sich in Bewegung, der Pavian sprang blitzschnell zwischen die beiden Hörner der Giraffe und klammerte sich daran fest. „Na los schneller! Nein nicht nach dahin, ich will mit dir ans Ende der Welt. Geh dahin, wo nur noch Steine sind, Giraffe!“ Die Giraffe gehorchte und drehte nach Rechts ab. Das vorbeigallopierende Pärchen riss andere Tiere aus dem Schlaf. Ein aufgescheuchter Strauß lief hastig aus dem Weg und schüttelte den Kopf.


Eine ganze Weile trabten die beiden durch die weite Landschaft. Als sie das Ende der Wiesen erreichten, stand die Sonne schon recht hoch am Horizont und es war warm geworden. Die Giraffe hielt inne. Auch der Pavian, der den gemütlichen Ritt durch die Sonne genossen und fast pausenlos auf die Giraffe eingeredet hatte, war jetzt still geworden. „Das hier ist das Ende der Welt, mein Freund“, sagte die Giraffe, „nichts als Steine, so weit ich blicken kann. Noch nie ist jemand aus unserem Stamm weiter gelaufen, als bis hierher.“

Es dauerte eine Weile, bevor der kleine Pavian antwortete. Doch dann sagte er mit bestimmter Stimme „Lauf weiter, Giraffe. Das hier ist noch nicht das Ende der Welt. Dort hinten kann ich einen Adler fliegen sehen“. Doch die Giraffe weigerte sich. Da sprang der kleine Pavian auf den Boden und fing an zu laufen. Die Giraffe zögerte. Noch nie war jemand weiter als bis hierhin gelaufen, das wusste sie. Wer es wagte würde sicherlich nie zurückkehren. Sie dachte an ihre Familie, die schattigen Bäume, die weiten Wiesen. Dann bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie musste den kleinen Pavian retten. Die Giraffe atmete einmal tief durch um sich zu beruhigen und lief los.

Der Pavian war schnell gewesen, die Giraffe konnte ihn schon nicht mehr sehen. Doch nachdem sie eine Weile gelaufen war, erblickte sie ihn plötzlich am Horizont. Er schien sich nicht zu bewegen, er saß einfach nur da. Die Giraffe lief jetzt umso schneller. Kurz bevor sie ihren Freund erreichte, erschrak die Giraffe. Sie erkannte, dass der kleine Pavian auf einem Felsvorsprung vor einer riesigen Schlucht saß. „Das Ende der Welt“, dachte die Giraffe und schluckte. Ängstlich näherte sie sich mit langsamen Schritten. Sie stand nun neben ihrem kleinen Freund, beide guckten in die endlose Weite der Schlucht. Dann drehte der kleine Pavian seinen Kopf nach oben und fragte „Hast du jemals etwas so schönes gesehen, Giraffe?“ Die Giraffe schwieg. Sie hatte ihre Angst vergessen. Für das, was sie mit ihren Augen sah, hatte sie keine Worte. Jetzt sprang der kleine Pavian auf. „Giraffe, erzähl mir was hinter der großen Schlucht liegt, du bist so groß, was siehst du?“. Die Giraffe blickte zu ihrem kleinen Freund, der sie mit erwartungsvollen Augen ansah.



„Ich sehe nichts, kleiner Pavian. Wir sind am Ende der Welt.“ „Das glaube ich nicht! Ich will mehr sehen!“, rief der kleine Pavian und war mit einem Satz auf dem Rücken der Giraffe. Er kletterte wieder bis auf den Kopf seiner Freundin. Doch auch er konnte von hier aus nicht das Ende der Schlucht erblicken. Der kleine Pavian gab sich damit nicht zufrieden. „Spring hoch, Giraffe. Wenn du ganz hoch springst, kann ich vielleicht sehen, was hinter der großen Schlucht liegt.“


„Halt!“, eine raue Stimme ließ die beiden Freunde zusammenschrecken. Unbemerkt hatte sich eine Schildkröte genähert und blickte zu dem ungewöhnlichen Pärchen auf. „Halt, ihr könnt hier nicht springen, das ist viel zu gefährlich. Ohnehin werdet ihr nichts sehen. Die Welt endet hier. Glaubt mir, ich wohne hier schon seit 120 Jahren. Hinter der Schlucht beginnt die Hölle. Wilde Kreaturen wohnen dort, sie kennen weder Freundschaft noch Liebe. Wer sich dorthin wagt, kehrt nie wieder zurück.“ Bei diesen Worten erschraken der kleine Pavian und die Giraffe. Plötzlich wurde ihnen bewusst, wie weit sie sich von ihrem zu Hause entfernt hatten. Der kleine Pavian spürte in diesem Moment, dass er Hunger hatte. „Geht. Lauft zurück nach Hause. Die Welt hier draußen ist nichts für euch“, raunte die Schildkröte leise aber bestimmt.



Doch ihn diesem Moment war ein Flügelschlag zu hören und ein Adler landete neben der kleinen Gruppe. „Glaubt der Schildkröte kein Wort“, sagte er ohne sich vorzustellen. Die drei guckten den Adler verdutzt an. „Die Schildkröte mag zwar schon 120 Jahre hier sein, doch hat sie keine Flügel. Am gefährlichsten ist die Weltanschauung derer, die sie nie gesehen haben.“


„Adler, warst du schon einmal hinter dem Ende der Welt?“, fragte der kleine Pavian vorsichtig. Immer noch fühlte er seinen kleinen Körper vor Angst zittern, doch die Worte des Adlers machten ihn neugierig. „Hinter dem Ende der Welt…pffft. Dann seht doch selbst. Ich habe doch nur versucht….Noch nie hat jemand…“, die Schildkröte beendete ihre Sätze nicht. Stattdessen drehte sie den anderen Tieren den Rücken zu und krabbelte kopfschüttelnd davon. „Erzähl mir, Adler, wie sieht die Welt dort hinten aus?“, drängte der kleine Pavian. Der Adler blickte der Schildkröte hinterher. Dann drehte der den Kopf und ließ seinen Blick über die Schlucht schweifen. „Weißt du, kleiner Pavian, dort hinten ist alles ganz anders. Es gibt Bäume, größer als Berge. Tiere schneller als der Wind. Wasser so viel, dass Elefanten darin schwimmen können. Ich habe Vögel getroffen, die noch viel weiter geflogen sind. Sie erzählen von Kälte, die den Körper lähmt. Von weißem Sand, der vom Himmel fällt. Die weite Welt ist nicht ungefährlich, kleiner Pavian. Du musst vorsichtig sein, wenn du dich dort hinaus wagst. Du musst vertrauen können und deine alten Erwartungen aufgeben. Nur dann schaffst du es da draußen nicht unterzugehen.“


Der Pavian und auch die Giraffe lauschten den Worten des Adlers gespannt. Noch immer war der Blick des Adlers in die Ferne gerichtet. „Ich mag deine Neugierde, kleiner Pavian. Es ist toll, wie du zu deinem Freund hältst, Giraffe. Ich habe euch schon eine ganze Weile aus der Luft beobachtet. Wisst ihr, zusammen könnt ihr es schaffen. Wenn ihr die Welt da draußen einmal gesehen habt, lässt sie euch nie wieder los. Vergesst nur für einen Moment eure Sorgen und Ängste und lauft los. Wenn ihr zurückkommt, seid ihr reicher als der König der Tiere und weiser als die Alten.“




Mit diesen Worten spannte der Adler seine Flügel auf und machte einen Satz nach vorne. Elegant ließ er sich in die Tiefe der Schlucht gleiten, machte einige Flügelschläge und war bald nur noch als kleiner Punkt am Horizont zu sehen. Der kleine Pavian rutschte am Hals der Giraffe hinunter und legte sich auf ihren Rücken. „Du, kleiner Pavian, meinst du es ist wahr, was der Adler sagt?“, fragte die Giraffe leise. „Vielleicht, ich weiß es nicht, Giraffe.“, antwortete der Pavian. „Es ist schön diesen Moment mit dir zu teilen“, fügte er hinzu und schmiegte seinen Kopf an das Fell seiner Freundin. Und so standen sie noch lange vor der großen Schlucht. Erst als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, machten sie sich langsam auf den Rückweg. Die Worte des Adlers verfolgten den Pavian. Er träumte von Bäumen größer als Berge, von einer fernen Welt, von einem großen Abenteuer. Er klammerte sich ein wenig fester an das Fell der Giraffe und wusste in diesem Moment, dass seine Träume wahr werden würden.

Am siebten Tag

"Gibt es vielleicht irgendetwas, das ihr sagen wollt. Vielleicht wer ihr seid und wo ihr herkommt? Das würde der Gemeinde viel bedeuten.“
Auf einem Hügel mitten in Okuryangara steht eine kleine Kirche. Sie ist vielleicht sechs mal zwanzig Meter groß und aus grauem Wellblech gebaut. Über dem Eingang hängt ein Schild mit der Aufschrift „Babilon Gospel Church“. Ringsherum stehen die Blechhütten der Einheimischen, in einem ausgetrockneten Flussbett spielen Kinder Fußball.




Okuryangara ist ein Township Windhoeks, nicht allzu weit von der Innenstadt entfernt. Es liegt noch hinter Katutura und ist ein Gebiet, in dem keine Städteplanung existiert. Scheinbar wahllos werden Tag für Tag neue Blechhütten für Zuwanderer aufgestellt, die Stadt wächst mit einem Tempo, das auch entwickelte Länder überfordern würde. Die Bilder habe ich dieses Mal nicht selbst gemacht - aus Respekt aber auch Angst war ich bisher nur ohne Kamera im Township unterwegs (Nachtrag: Die Fotos habe ich inzwischen durch eigene ersetzt. Siehe auch Blogeintrag "Die Kinder von Katutura").




Am Sonntagmorgen tragen die Einwohner Plastikstühle aus ihren Häusern in die Kirche. Steffen und ich stehen unschlüssig vor dem kleinen Gebäude, die Menschen gucken uns mit interessierten Augen an. Wir müssen nicht lange warten und ein Vertreter der Gemeinde kommt auf uns zu. Er bittet uns herein. Wir sollen uns doch nach ganz vorne setzen, sagt er, es sei toll, dass wir gekommen sind. Vorsichtshalber steuern wir auf eine der kleinen Holzbänke im hinteren Bereich der Kirche zu. Erst als die Bänke sich nach und nach füllen merken wir, dass um uns herum nur Männer sitzen. Für Frauen und Kinder ist die linke Seite der Kirche reserviert. Es ist staubig und warm im Inneren, durch einige kleine Fenster in den blechernen Wänden fällt Sonnenlicht herein.

Dann beginnt der Gottesdienst mit einem Lied auf Oshivambo. Da auch der Pastor Oshivambo redet, übersetzt ein Gemeindemitglied ins Englische. Nach dem Lied gibt der Pastor ein Zeichen, Fenster und Türen der Kirche werden geschlossen. Zu unserer Überraschung werfen sich die Kirchenbesucher auf den Boden. Sie fangen an wild durcheinander zu rufen, die Hände nach oben zu strecken, eine Stimme übertönt die andere. Nach drei Minuten wird es wieder still, eine Frau fängt an zu singen, die Gemeinde stimmt mit ein. Zwar verstehen wir die Liedtexte nicht, doch klingt der Gesang sehr ehrlich, die Menschen brauchen keine Liederbücher.

Es folgt ein langer Gottesdienst. Menschen gehen nach vorne, beten oder erzählen. Von ihrer Familie, ihrem Leben und der Gemeinde. Vor mir sitzt der junge Namibianer Peter, der sich immer dann zu mir umdreht und übersetzt, wenn nicht in Englisch geredet wird. Die Menschen erzählen davon, wie glücklich sie in der Gemeinde sind, dass sie ihnen Kraft gibt, Rückhalt in dem schwierigen Umfeld, Hoffnung in einer schwierigen Zeit. Verschiedene Gruppen stimmen Lieder an und führen Tänze vor. Zunächst die Männer, dann Frauen, danach die Kinder. Es ist eine ungewohnt lockere Atmosphäre. Irgendwann werden Namen ausgerufen und Post verteilt. Man sieht Frauen ihre kleinen Kinder stillen, während der Priester mit dem Bild einer Bibelszene durch die Reihen geht.

Als wir gefragt werden, ob wir nach vorne kommen wollen um uns vorzustellen, lehnen wir ab. In der nächsten Woche vielleicht. So viel zu erzählen wie die Einheimischen, haben wir ohnehin nicht. Ein Vertreter der Gemeinde übernimmt unseren Part. Er sagt, dass wir zwei Besucher aus Deutschland seien, diese Woche erst einmal gucken würden, nächste Woche dann vielleicht einen Teil zum Gottesdienst beitrügen. Die Gemeinde applaudiert um uns willkommen zu heißen.
Dann kommt ein Mann nach vorne, den sie „Vater“ nennen. Er ist schon so lange in der Gemeinde, dass er viele der Anwesenden seit ihrer Kindheit kennt. Er fängt an von seinen Erfahrungen zu erzählen und steigert sich so in seine eigenen Worte hinein, dass der Übersetzer irgendwann Mühe hat, schnell genug auf Englisch zu folgen.

Als wir später aus der Kirche kommen ist es bereits ein Uhr. Der Gottesdienst hat nahezu vier Stunden gedauert. Das macht deutlich, wie sehr die Religion im Mittelpunkt des Lebens vieler Afrikaner steht. Im Mittelpunkt eines Lebens, dass von Armut und Krankheiten geprägt ist. In diesem Kontext erscheint es umso unverständlicher, dass der Papst noch letzten Monat in das benachbarte Angola gereist ist und der Verhütung die Schuld am aktuellen Aids-Problem gegeben hat. Das „spirituelle Erwachen“, von dem das katholische Kirchenoberhaupt predigte, hat den Einwohnern hier bisher wenig geholfen. Was auch immer sich der Papst darunter vorstellt, vielleicht kommt es ja eines Tages.

Am heutigen Sonntag dagegen, tragen die Einheimischen ihre Plastikstühle wieder zurück in die umliegenden Hütten. Viele von ihnen werden jetzt in eine der kleinen Bars gehen, sich in die Sonne setzen und trinken. Die Bibel sage, man solle sonntags ein wenig Wein trinken. Was „ein wenig“ bedeutet, sei jedoch Ansichstssache, sagt ein Mann der auch Johannes heißt. Er hält sein Glas hoch und lacht.
Und ein Lachen nehme ich heute auch mit nach Hause. Denn trotz der widrigen Umstände, die das Leben der Einheimischen so schwer machen, begegnet man nirgendwo so unvoreingenommenen und fröhlichen Menschen wie hier.





Bis ans Ende der Welt

Schon meinen letzten Beitrag hatte ich fälschlicherweise „Bis ans Ende der Welt“ genannt. Jetzt in der Osterwoche war ich wirklich dort.

Auch im fünfzehnten Jahrhundert muss Bartolomeu Diaz bereits gewusst haben, dass er unter der südafrikanischen Küste so schnell nicht mehr auf Land stoßen würde. Als der Portugiese merkte, das Ende des afrikanischen Kontinents erreicht zu haben, gab er dem südwestlichsten Punkt den Namen Kap der Stürme – heute bekannt als Kap der guten Hoffnung. Als wir am Kap stehen und uns fragen, welche Landmasse südlich hinter dem Horizont liegt, kommt niemand auf Alaska. Doch in der Tat ist das unendlich weit entfernte Alaska die nächste große Landmasse hinter dem Südpol. Die Erde ist eben doch eine Kugel.

Der Punkt, den Diaz in die Weltkarte einzeichnet ist von nun an Ausganspunkt für die Eroberungszüge der europäischen Kolonialmächte. In den folgenden fünfhundert Jahren dringen zunächst die niederländische Buren und dann Briten in weite Teile Südafrikas und des heutigen Namibias vor. Eingeborene werden verdrängt, die Apartheid ist geschaffen.
Zeitgleich entwickelt sich die einstige Anlaufstelle am Kap zu einer der lebendigsten und faszinierendsten Städte des südlichen Afrikas. Kapstadt. Das alles gehört keineswegs zu meiner Allgemeinbildung, doch Reisen bildet.


Ich verbringe Ostern in einem Land, das mich eigentlich nie interessiert hat. Südafrika, ein weit entwickeltes Land ohne afrikanischen Charakter? Reiche Touristen, globalisierte Städte? Es stimmt, Kapstadt ist modern und international. Aber zu Recht zieht es den Besucher gerade deswegen so in den Bann.
Insgesamt eine Woche verbringen wir in einem Backpacker mitten in der Innenstadt. Abends ist viel los in den Straßen, Menschen ziehen von Bar zu Bar, Bands sorgen für Live-Musik. Es herrscht eine für afrikanische Verhältnisse überraschend entspannte Atmosphäre. Einige bettelnde Kinder wühlen sich mit eschreckender Routine durch die Menge und gehen gezielt auf die reichen Touristen zu. An jeder zweiten Straßenecke stehen Männer, die uns Drogen anbieten. Doch eine Großstadt ohne Armut und Kriminalität gibt es wohl nirgendwo auf der Welt.
Tagsüber schlendern wir über die großen Märkte, auf denen Einheimische ihr Handwerk verkaufen. Etwa Tiere aus Holz, Spielzeugautos aus alten Coladosen, oder bunte Gemälde. Endlich kann wieder gehandelt werden.

Am Ostermontag besteigen wir den Tafelberg, dessen markante Erscheinung eindeutig mit in das Stadtbild gehört, da er unmittelbar hinter dem Zentrum in den Himmel ragt. Das Klima zwingt uns zu vielen kleinen Pausen während des gut dreistündigen Aufstieges. Doch der Ausblick lässt Erschöpfung und Verzweiflung schnell vergessen. Eine 360°-Drehung offenbart einen Blick über die Weiten des Atlantiks, die bergige Landschaft des Kaps und beinahe bis hin zum nahen indischen Ozean. Vor uns erstreckt sich das Stadtgebiet, dessen Dimensionen erst von hier oben ersichtlich werden. Nicht weit vor der Küste liegt Robben Island, die Insel, auf der Nelson Mandela einen Großteil seiner 27-jährigen Gefängnisstrafe absaß, bevor er 1994 Präsident Südafrikas wurde.




Mittwochs folgt eine besondere Begegnung, die uns bewusst macht, dass wir nicht in Europa sind. Wir sind mit zwei Autos am Kap unterwegs, als eine alte Lötverbindung am Auspuff des einen Wagens bricht und selbiger über den Teer schleift. Als wir anhalten um den Schaden zu begutachten, werden wir von einem Mann beobachtet, der am Straßenrand steht. Noch bevor wir einen Beschluss fassen können, gesellt er sich zu uns und legt sich unter das Auto. Aus der Tasche zieht er einen Draht, aus dem er sonst wahrscheinlich eine Giraffe oder ein Spielzeugauto gebogen hätte. Aus einem naheliegenden Dorf nähern sich weitere Einheimische und schon bald liegen drei Männer unter dem Wagen. Der Draht alleine reicht nicht, die Männer holen ein Eisenrohr aus dem Dorf, dass sie passend zurechtsägen. Mit dem Rohr wird die Bruchstelle stabilisiert, eine aufgeschnittene Coladose wird darumgewickelt und mit dem Draht befestigt. Mittlerweile packen sechs Männer mit an. Verwundert über die beispiellose Hilfsbereitschaft stehen wir daneben. Eine Viertelstunde später sind die Männer mit ihrer Arbeit zufrieden. Als Dank können wir ihnen nur ein wenig Geld und die Tüte Äpfel anbieten, die wir im Auto hatten. Das ist Afrika.




Nur so können wir unseren Weg direkt fortsetzen und schaffen es abends noch nach Simon’s Town. Um den Streifzug durch die Tierwelt der letzten Wochen perfekt zu machen, sehen wir hier eine Pinguinkolonie. Nirgendwo sonst auf der Welt, wagen sich die kleinen Tiere so nah an die Menschen heran. Hier leben sie an einem geschützten Strand direkt an der Stadt.


Die Woche ist schnell um, die Busfahrt zurück nach Windhoek dauert 23 Stunden. Mitten in der Nacht kommen wir an die Grenze. Der Beamte an der Passkontrolle starrt konzentriert auf seinen Bildschirm, er kämpft offensichtlich damit seine Augen offen zu halten. Ein anderer verwendet seine gesamte Konzentration darauf Orangensaft aus einem Kanister in eine Flasche umzufüllen. Nachts läuft auch hier alles ein wenig langsamer. Jugendliche Zivilbeamte mischen sich in die Gruppe und kontrollieren stichprobenartig die Gepäckstücke. Dann wird unser Pass gestempelt und wir abgetastet. Welkom terug by Namibië. Ein toller Urlaub geht vorbei, der doch irgendwie keiner war. Zwar erwartet mich jetzt wieder die Arbeit, doch Alltag ist Afrika noch lange nicht.