Am siebten Tag

"Gibt es vielleicht irgendetwas, das ihr sagen wollt. Vielleicht wer ihr seid und wo ihr herkommt? Das würde der Gemeinde viel bedeuten.“
Auf einem Hügel mitten in Okuryangara steht eine kleine Kirche. Sie ist vielleicht sechs mal zwanzig Meter groß und aus grauem Wellblech gebaut. Über dem Eingang hängt ein Schild mit der Aufschrift „Babilon Gospel Church“. Ringsherum stehen die Blechhütten der Einheimischen, in einem ausgetrockneten Flussbett spielen Kinder Fußball.




Okuryangara ist ein Township Windhoeks, nicht allzu weit von der Innenstadt entfernt. Es liegt noch hinter Katutura und ist ein Gebiet, in dem keine Städteplanung existiert. Scheinbar wahllos werden Tag für Tag neue Blechhütten für Zuwanderer aufgestellt, die Stadt wächst mit einem Tempo, das auch entwickelte Länder überfordern würde. Die Bilder habe ich dieses Mal nicht selbst gemacht - aus Respekt aber auch Angst war ich bisher nur ohne Kamera im Township unterwegs (Nachtrag: Die Fotos habe ich inzwischen durch eigene ersetzt. Siehe auch Blogeintrag "Die Kinder von Katutura").




Am Sonntagmorgen tragen die Einwohner Plastikstühle aus ihren Häusern in die Kirche. Steffen und ich stehen unschlüssig vor dem kleinen Gebäude, die Menschen gucken uns mit interessierten Augen an. Wir müssen nicht lange warten und ein Vertreter der Gemeinde kommt auf uns zu. Er bittet uns herein. Wir sollen uns doch nach ganz vorne setzen, sagt er, es sei toll, dass wir gekommen sind. Vorsichtshalber steuern wir auf eine der kleinen Holzbänke im hinteren Bereich der Kirche zu. Erst als die Bänke sich nach und nach füllen merken wir, dass um uns herum nur Männer sitzen. Für Frauen und Kinder ist die linke Seite der Kirche reserviert. Es ist staubig und warm im Inneren, durch einige kleine Fenster in den blechernen Wänden fällt Sonnenlicht herein.

Dann beginnt der Gottesdienst mit einem Lied auf Oshivambo. Da auch der Pastor Oshivambo redet, übersetzt ein Gemeindemitglied ins Englische. Nach dem Lied gibt der Pastor ein Zeichen, Fenster und Türen der Kirche werden geschlossen. Zu unserer Überraschung werfen sich die Kirchenbesucher auf den Boden. Sie fangen an wild durcheinander zu rufen, die Hände nach oben zu strecken, eine Stimme übertönt die andere. Nach drei Minuten wird es wieder still, eine Frau fängt an zu singen, die Gemeinde stimmt mit ein. Zwar verstehen wir die Liedtexte nicht, doch klingt der Gesang sehr ehrlich, die Menschen brauchen keine Liederbücher.

Es folgt ein langer Gottesdienst. Menschen gehen nach vorne, beten oder erzählen. Von ihrer Familie, ihrem Leben und der Gemeinde. Vor mir sitzt der junge Namibianer Peter, der sich immer dann zu mir umdreht und übersetzt, wenn nicht in Englisch geredet wird. Die Menschen erzählen davon, wie glücklich sie in der Gemeinde sind, dass sie ihnen Kraft gibt, Rückhalt in dem schwierigen Umfeld, Hoffnung in einer schwierigen Zeit. Verschiedene Gruppen stimmen Lieder an und führen Tänze vor. Zunächst die Männer, dann Frauen, danach die Kinder. Es ist eine ungewohnt lockere Atmosphäre. Irgendwann werden Namen ausgerufen und Post verteilt. Man sieht Frauen ihre kleinen Kinder stillen, während der Priester mit dem Bild einer Bibelszene durch die Reihen geht.

Als wir gefragt werden, ob wir nach vorne kommen wollen um uns vorzustellen, lehnen wir ab. In der nächsten Woche vielleicht. So viel zu erzählen wie die Einheimischen, haben wir ohnehin nicht. Ein Vertreter der Gemeinde übernimmt unseren Part. Er sagt, dass wir zwei Besucher aus Deutschland seien, diese Woche erst einmal gucken würden, nächste Woche dann vielleicht einen Teil zum Gottesdienst beitrügen. Die Gemeinde applaudiert um uns willkommen zu heißen.
Dann kommt ein Mann nach vorne, den sie „Vater“ nennen. Er ist schon so lange in der Gemeinde, dass er viele der Anwesenden seit ihrer Kindheit kennt. Er fängt an von seinen Erfahrungen zu erzählen und steigert sich so in seine eigenen Worte hinein, dass der Übersetzer irgendwann Mühe hat, schnell genug auf Englisch zu folgen.

Als wir später aus der Kirche kommen ist es bereits ein Uhr. Der Gottesdienst hat nahezu vier Stunden gedauert. Das macht deutlich, wie sehr die Religion im Mittelpunkt des Lebens vieler Afrikaner steht. Im Mittelpunkt eines Lebens, dass von Armut und Krankheiten geprägt ist. In diesem Kontext erscheint es umso unverständlicher, dass der Papst noch letzten Monat in das benachbarte Angola gereist ist und der Verhütung die Schuld am aktuellen Aids-Problem gegeben hat. Das „spirituelle Erwachen“, von dem das katholische Kirchenoberhaupt predigte, hat den Einwohnern hier bisher wenig geholfen. Was auch immer sich der Papst darunter vorstellt, vielleicht kommt es ja eines Tages.

Am heutigen Sonntag dagegen, tragen die Einheimischen ihre Plastikstühle wieder zurück in die umliegenden Hütten. Viele von ihnen werden jetzt in eine der kleinen Bars gehen, sich in die Sonne setzen und trinken. Die Bibel sage, man solle sonntags ein wenig Wein trinken. Was „ein wenig“ bedeutet, sei jedoch Ansichstssache, sagt ein Mann der auch Johannes heißt. Er hält sein Glas hoch und lacht.
Und ein Lachen nehme ich heute auch mit nach Hause. Denn trotz der widrigen Umstände, die das Leben der Einheimischen so schwer machen, begegnet man nirgendwo so unvoreingenommenen und fröhlichen Menschen wie hier.





Bis ans Ende der Welt

Schon meinen letzten Beitrag hatte ich fälschlicherweise „Bis ans Ende der Welt“ genannt. Jetzt in der Osterwoche war ich wirklich dort.

Auch im fünfzehnten Jahrhundert muss Bartolomeu Diaz bereits gewusst haben, dass er unter der südafrikanischen Küste so schnell nicht mehr auf Land stoßen würde. Als der Portugiese merkte, das Ende des afrikanischen Kontinents erreicht zu haben, gab er dem südwestlichsten Punkt den Namen Kap der Stürme – heute bekannt als Kap der guten Hoffnung. Als wir am Kap stehen und uns fragen, welche Landmasse südlich hinter dem Horizont liegt, kommt niemand auf Alaska. Doch in der Tat ist das unendlich weit entfernte Alaska die nächste große Landmasse hinter dem Südpol. Die Erde ist eben doch eine Kugel.

Der Punkt, den Diaz in die Weltkarte einzeichnet ist von nun an Ausganspunkt für die Eroberungszüge der europäischen Kolonialmächte. In den folgenden fünfhundert Jahren dringen zunächst die niederländische Buren und dann Briten in weite Teile Südafrikas und des heutigen Namibias vor. Eingeborene werden verdrängt, die Apartheid ist geschaffen.
Zeitgleich entwickelt sich die einstige Anlaufstelle am Kap zu einer der lebendigsten und faszinierendsten Städte des südlichen Afrikas. Kapstadt. Das alles gehört keineswegs zu meiner Allgemeinbildung, doch Reisen bildet.


Ich verbringe Ostern in einem Land, das mich eigentlich nie interessiert hat. Südafrika, ein weit entwickeltes Land ohne afrikanischen Charakter? Reiche Touristen, globalisierte Städte? Es stimmt, Kapstadt ist modern und international. Aber zu Recht zieht es den Besucher gerade deswegen so in den Bann.
Insgesamt eine Woche verbringen wir in einem Backpacker mitten in der Innenstadt. Abends ist viel los in den Straßen, Menschen ziehen von Bar zu Bar, Bands sorgen für Live-Musik. Es herrscht eine für afrikanische Verhältnisse überraschend entspannte Atmosphäre. Einige bettelnde Kinder wühlen sich mit eschreckender Routine durch die Menge und gehen gezielt auf die reichen Touristen zu. An jeder zweiten Straßenecke stehen Männer, die uns Drogen anbieten. Doch eine Großstadt ohne Armut und Kriminalität gibt es wohl nirgendwo auf der Welt.
Tagsüber schlendern wir über die großen Märkte, auf denen Einheimische ihr Handwerk verkaufen. Etwa Tiere aus Holz, Spielzeugautos aus alten Coladosen, oder bunte Gemälde. Endlich kann wieder gehandelt werden.

Am Ostermontag besteigen wir den Tafelberg, dessen markante Erscheinung eindeutig mit in das Stadtbild gehört, da er unmittelbar hinter dem Zentrum in den Himmel ragt. Das Klima zwingt uns zu vielen kleinen Pausen während des gut dreistündigen Aufstieges. Doch der Ausblick lässt Erschöpfung und Verzweiflung schnell vergessen. Eine 360°-Drehung offenbart einen Blick über die Weiten des Atlantiks, die bergige Landschaft des Kaps und beinahe bis hin zum nahen indischen Ozean. Vor uns erstreckt sich das Stadtgebiet, dessen Dimensionen erst von hier oben ersichtlich werden. Nicht weit vor der Küste liegt Robben Island, die Insel, auf der Nelson Mandela einen Großteil seiner 27-jährigen Gefängnisstrafe absaß, bevor er 1994 Präsident Südafrikas wurde.




Mittwochs folgt eine besondere Begegnung, die uns bewusst macht, dass wir nicht in Europa sind. Wir sind mit zwei Autos am Kap unterwegs, als eine alte Lötverbindung am Auspuff des einen Wagens bricht und selbiger über den Teer schleift. Als wir anhalten um den Schaden zu begutachten, werden wir von einem Mann beobachtet, der am Straßenrand steht. Noch bevor wir einen Beschluss fassen können, gesellt er sich zu uns und legt sich unter das Auto. Aus der Tasche zieht er einen Draht, aus dem er sonst wahrscheinlich eine Giraffe oder ein Spielzeugauto gebogen hätte. Aus einem naheliegenden Dorf nähern sich weitere Einheimische und schon bald liegen drei Männer unter dem Wagen. Der Draht alleine reicht nicht, die Männer holen ein Eisenrohr aus dem Dorf, dass sie passend zurechtsägen. Mit dem Rohr wird die Bruchstelle stabilisiert, eine aufgeschnittene Coladose wird darumgewickelt und mit dem Draht befestigt. Mittlerweile packen sechs Männer mit an. Verwundert über die beispiellose Hilfsbereitschaft stehen wir daneben. Eine Viertelstunde später sind die Männer mit ihrer Arbeit zufrieden. Als Dank können wir ihnen nur ein wenig Geld und die Tüte Äpfel anbieten, die wir im Auto hatten. Das ist Afrika.




Nur so können wir unseren Weg direkt fortsetzen und schaffen es abends noch nach Simon’s Town. Um den Streifzug durch die Tierwelt der letzten Wochen perfekt zu machen, sehen wir hier eine Pinguinkolonie. Nirgendwo sonst auf der Welt, wagen sich die kleinen Tiere so nah an die Menschen heran. Hier leben sie an einem geschützten Strand direkt an der Stadt.


Die Woche ist schnell um, die Busfahrt zurück nach Windhoek dauert 23 Stunden. Mitten in der Nacht kommen wir an die Grenze. Der Beamte an der Passkontrolle starrt konzentriert auf seinen Bildschirm, er kämpft offensichtlich damit seine Augen offen zu halten. Ein anderer verwendet seine gesamte Konzentration darauf Orangensaft aus einem Kanister in eine Flasche umzufüllen. Nachts läuft auch hier alles ein wenig langsamer. Jugendliche Zivilbeamte mischen sich in die Gruppe und kontrollieren stichprobenartig die Gepäckstücke. Dann wird unser Pass gestempelt und wir abgetastet. Welkom terug by Namibië. Ein toller Urlaub geht vorbei, der doch irgendwie keiner war. Zwar erwartet mich jetzt wieder die Arbeit, doch Alltag ist Afrika noch lange nicht.


Ab in die Wüste

Mittlerweile hat schon meine sechste Arbeitswoche hier in Namibia begonnen. Der tägliche Weg zur Arbeit ist noch nicht langweilig geworden und wie vielfältig das Land um Windhoek herum ist, wird mir nach und nach immer bewusster. Am Wochenende habe ich mich mit Steffen und Fred auf den Weg zur Küste gemacht.
Mit einem kleinen Mietwagen fahren wir vier Stunden gen Osten. Die Fahrt über die schmale, mit unzähligen Schlaglöchern gespickte, Straße hätten sich die Autoren der Geographie-Lehrbücher nicht besser erdenken können. Zunächst ist die Landschaft entlang des Trans-Kalahari Highway noch recht grün, überall stehen Büsche und kleine Bäume. Doch nach und nach wird es immer eintöniger. Wir kommen an einem Schild vorbei, das einen Baum ankündigt. Und tatsächlich steht einen Kilometer später ein einzelner Baum am Straßenrand, unter dem wir kurz Pause machen können. Danach verschwindet jegliche Vegetation und es wird so heiß, dass wir freiwillig auf längere Pausen verzichten. Bis zum Horizont sehen wir nichts als Staub und Felsen. Keine Stunde später, kurz vor der Küste, kühlt es wieder merklich ab.






In Swakopmund machen wir einen Zwischenstopp, einige Einheimische eilen auf und zu und bietet an auf unser Auto aufzupassen, während wir zum Strand gehen. Da sie weit und breit die einzigen Menschen sind, haben wir eigentlich keine großen Bedenken, dass dem Fahrzeug in unserer Abwesenheit etwas passieren könnte, doch die Männer lassen nicht mit sich reden – sie passen auf. Und tatsächlich, als wir 5 Minuten später wiederkommen, ist der Wagen wie versprochen unversehrt. Gut, dass die Männer aufgepasst haben. Sie freuen sich über die 20 Cent, die sie dafür bekommen.
Von Swakopmund bis nach Walvis Bay (Walfisch-Bucht) ist es nicht weit. Doch diese letzten 30 Kilometer sind spektakulär. Links neben uns tauchen die ersten Sanddünen der Wüste Namib auf, während rechts die Wellen des Atlantiks stranden. Ein bizarrer Anblick. In Walvis Bay werden wir von Captain Mansur begrüßt, der sich nicht nur so nennt, sondern wirklich einen Frachter durch die Ozeane manövriert. Captain Mansur kommt aus Pakistan und ist per Schiff unterwegs, seitdem er 19 Jahre alt ist. Über Couchsurfing hatte ich Kontakt zu ihm aufgenommen und somit können wir kostenlos in Walvis Bay übernachten, wo der Kapitän zur Zeit ein kleines Haus hat. Walvis Bay wirkt verlassen und dafür, dass es Namibias zweitgrößte Stadt ist, sehr klein. Aber genau wie in Windhoek existieren scheinbar auch hier zwei parallele Welten. Die kleine moderne Innenstadt und weiter außerhalb die riesigen Slums.

Sehr komfortable Couchsurfing-Unterkunft in Walvis Bay



Inzwischen ist es später Nachmittag. Mit dem Auto fahren wir einige Kilometer in die Namib. Hier steht Düne 7, die größte Sandformation im Umkreis. Vor der Düne stellen wir das Auto ab, passend zum Sonnenuntergang wollen wir oben sein. Schnell noch die Schuhe ins Auto, Klappe zu…Und damit ist das Auto sicher verschlossen, leider samt Schlüssel. Die Sonne droht hinter der Düne zu verschwinden, meine Vorfreude auf den gemütlichen Abend versinkt davor. Doch einige Meter entfernt sitzen einige Afrikaner um ein Lagerfeuer. In meiner Verzweiflung frage ich nach Hilfe und entfache damit einen Wettstreit unter sechs Männern, die zeitgleich versuchen mit Drähten und Schraubenziehern in das Fahrzeug einzudringen. Lange verzweifeln sie am jungen Baujahr des Wagens, doch irgendwann springt die Fahrertür auf, ein Jubelschrei geht durch die Menge. Die Männer setzen sich wieder an ihr Feuer, ich schnappe mir den Schlüssel und spurte in Richtung Düne. Zwanzig Minuten später erreiche ich die Kuppe, wo Fred und Steffen schon auf mich warten. Gerade noch rechtzeitig. Was folgt ist der wohl beeindruckendste Sonnenuntergang, den wir je erlebt haben. Vor uns liegt die unendliche Sandlandschaft der Namib, die von der Sonne in rötliche Farben getaucht wird. Verzaubert von der einmaligen Atmosphäre genießen wir den letzten Sommerabend diesen Jahres, denn heute werden die Uhren in Namibia auf Winterzeit umgestellt. Aber von Winter ist nichts zu spüren, wir liegen noch im warmen Sand, als die Sonne schon längst weg ist und der Mond über den Dünen leuchtet. Was für ein Tag.


Oben angekommen


Doch das ist nicht alles, was die kleine Küstenstadt zu bieten hat. Am nächsten Morgen fahren wir in die nur wenige Hundert Meter entfernte Lagune. Die Lagune von Walvis Bay ist die wichtigste Anlaufstelle für Vögel im südlichen Afrika und besonders bekannt für die unzähligen Flamingos. Wieder einmal zeigt sich ein abstruses Bild. Als wir mit dem Auto über einen Schmalen weg weiter auf den Landzipfel hinausfahren, sehen wir auf der einen Seite die Flamingos im Wasser, hinter uns die hohen Dünen der Namib und auf der anderen Seite eine schneeweiße Landschaft. Auf einer Fläche von 3500 Hektar wird hier das Salz Südafrikas gewonnen. Wir fahren weiter, bis der feste Weg aufhört und ein Weiterkommen ohne Allradantrieb unmöglich ist. Kaum sind wir ausgestiegen und einige Meter am Strand entlanggegangen, springt direkt vor uns ein Seelöwe aus den Wellen. Es folgen drei weitere. Wir sehen uns an und müssen lachen. Dass wir noch vor 14 Tagen zusammen im nicht allzu weit entfernten Harnas zwischen Löwen, Zebras und Pavianen übernachtet haben, kommt uns jetzt völlig irreal vor.