Lebensträume

Die Giraffe und der kleine Pavian waren beste Freunde. Es gab kaum einen Tag, den sie nicht gemeinsam verbrachten. Der kleine Pavian bewunderte die Giraffe für ihre langen Beine, so elegant konnte sie durch das hohe Gras traben. Meistens sprang er einfach auf ihren Rücken und ließ sich tragen. Die Giraffe bewunderte den Pavian für seine Einfälle. Durch sein Geschick hatten sie schon oft die entlegensten Wasserstellen gefunden, seltsame Früchte von Bäumen gepflückt und mit Steinen geöffnet. Die Wissbegier des kleinen Pavians schien unersättlich.

Kaum tauchten die ersten Sonnenstrahlen die Wiesen in braun-gelbe Farben, kam der Pavian auch an diesem Morgen zur Giraffe gelaufen. Als er sah, dass diese ihre Augen noch geschlossen hatte, griff er nach ihrem Schwanz, hangelte sich auf den Rücken, kletterte ihren langen Hals hoch und stellte sich auf ihren kleinen Kopf. „Wach auf Giraffe, ich will die Welt mit dir sehen!“, rief er und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. Schlaftrunken öffnete die Giraffe ein Auge und blickte in das strahlende Gesicht ihres kleinen Freundes, der sich in diesem Moment vorbeugte. „Na los, lauf, Giraffe! Wofür hast du denn so lange Beine?“ Die Giraffe murrte, musste jedoch innerlich lachen. Sie liebte den kleinen Pavian. Ohne ein Wort zu sagen setzte sie sich in Bewegung, der Pavian sprang blitzschnell zwischen die beiden Hörner der Giraffe und klammerte sich daran fest. „Na los schneller! Nein nicht nach dahin, ich will mit dir ans Ende der Welt. Geh dahin, wo nur noch Steine sind, Giraffe!“ Die Giraffe gehorchte und drehte nach Rechts ab. Das vorbeigallopierende Pärchen riss andere Tiere aus dem Schlaf. Ein aufgescheuchter Strauß lief hastig aus dem Weg und schüttelte den Kopf.


Eine ganze Weile trabten die beiden durch die weite Landschaft. Als sie das Ende der Wiesen erreichten, stand die Sonne schon recht hoch am Horizont und es war warm geworden. Die Giraffe hielt inne. Auch der Pavian, der den gemütlichen Ritt durch die Sonne genossen und fast pausenlos auf die Giraffe eingeredet hatte, war jetzt still geworden. „Das hier ist das Ende der Welt, mein Freund“, sagte die Giraffe, „nichts als Steine, so weit ich blicken kann. Noch nie ist jemand aus unserem Stamm weiter gelaufen, als bis hierher.“

Es dauerte eine Weile, bevor der kleine Pavian antwortete. Doch dann sagte er mit bestimmter Stimme „Lauf weiter, Giraffe. Das hier ist noch nicht das Ende der Welt. Dort hinten kann ich einen Adler fliegen sehen“. Doch die Giraffe weigerte sich. Da sprang der kleine Pavian auf den Boden und fing an zu laufen. Die Giraffe zögerte. Noch nie war jemand weiter als bis hierhin gelaufen, das wusste sie. Wer es wagte würde sicherlich nie zurückkehren. Sie dachte an ihre Familie, die schattigen Bäume, die weiten Wiesen. Dann bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie musste den kleinen Pavian retten. Die Giraffe atmete einmal tief durch um sich zu beruhigen und lief los.

Der Pavian war schnell gewesen, die Giraffe konnte ihn schon nicht mehr sehen. Doch nachdem sie eine Weile gelaufen war, erblickte sie ihn plötzlich am Horizont. Er schien sich nicht zu bewegen, er saß einfach nur da. Die Giraffe lief jetzt umso schneller. Kurz bevor sie ihren Freund erreichte, erschrak die Giraffe. Sie erkannte, dass der kleine Pavian auf einem Felsvorsprung vor einer riesigen Schlucht saß. „Das Ende der Welt“, dachte die Giraffe und schluckte. Ängstlich näherte sie sich mit langsamen Schritten. Sie stand nun neben ihrem kleinen Freund, beide guckten in die endlose Weite der Schlucht. Dann drehte der kleine Pavian seinen Kopf nach oben und fragte „Hast du jemals etwas so schönes gesehen, Giraffe?“ Die Giraffe schwieg. Sie hatte ihre Angst vergessen. Für das, was sie mit ihren Augen sah, hatte sie keine Worte. Jetzt sprang der kleine Pavian auf. „Giraffe, erzähl mir was hinter der großen Schlucht liegt, du bist so groß, was siehst du?“. Die Giraffe blickte zu ihrem kleinen Freund, der sie mit erwartungsvollen Augen ansah.



„Ich sehe nichts, kleiner Pavian. Wir sind am Ende der Welt.“ „Das glaube ich nicht! Ich will mehr sehen!“, rief der kleine Pavian und war mit einem Satz auf dem Rücken der Giraffe. Er kletterte wieder bis auf den Kopf seiner Freundin. Doch auch er konnte von hier aus nicht das Ende der Schlucht erblicken. Der kleine Pavian gab sich damit nicht zufrieden. „Spring hoch, Giraffe. Wenn du ganz hoch springst, kann ich vielleicht sehen, was hinter der großen Schlucht liegt.“


„Halt!“, eine raue Stimme ließ die beiden Freunde zusammenschrecken. Unbemerkt hatte sich eine Schildkröte genähert und blickte zu dem ungewöhnlichen Pärchen auf. „Halt, ihr könnt hier nicht springen, das ist viel zu gefährlich. Ohnehin werdet ihr nichts sehen. Die Welt endet hier. Glaubt mir, ich wohne hier schon seit 120 Jahren. Hinter der Schlucht beginnt die Hölle. Wilde Kreaturen wohnen dort, sie kennen weder Freundschaft noch Liebe. Wer sich dorthin wagt, kehrt nie wieder zurück.“ Bei diesen Worten erschraken der kleine Pavian und die Giraffe. Plötzlich wurde ihnen bewusst, wie weit sie sich von ihrem zu Hause entfernt hatten. Der kleine Pavian spürte in diesem Moment, dass er Hunger hatte. „Geht. Lauft zurück nach Hause. Die Welt hier draußen ist nichts für euch“, raunte die Schildkröte leise aber bestimmt.



Doch ihn diesem Moment war ein Flügelschlag zu hören und ein Adler landete neben der kleinen Gruppe. „Glaubt der Schildkröte kein Wort“, sagte er ohne sich vorzustellen. Die drei guckten den Adler verdutzt an. „Die Schildkröte mag zwar schon 120 Jahre hier sein, doch hat sie keine Flügel. Am gefährlichsten ist die Weltanschauung derer, die sie nie gesehen haben.“


„Adler, warst du schon einmal hinter dem Ende der Welt?“, fragte der kleine Pavian vorsichtig. Immer noch fühlte er seinen kleinen Körper vor Angst zittern, doch die Worte des Adlers machten ihn neugierig. „Hinter dem Ende der Welt…pffft. Dann seht doch selbst. Ich habe doch nur versucht….Noch nie hat jemand…“, die Schildkröte beendete ihre Sätze nicht. Stattdessen drehte sie den anderen Tieren den Rücken zu und krabbelte kopfschüttelnd davon. „Erzähl mir, Adler, wie sieht die Welt dort hinten aus?“, drängte der kleine Pavian. Der Adler blickte der Schildkröte hinterher. Dann drehte der den Kopf und ließ seinen Blick über die Schlucht schweifen. „Weißt du, kleiner Pavian, dort hinten ist alles ganz anders. Es gibt Bäume, größer als Berge. Tiere schneller als der Wind. Wasser so viel, dass Elefanten darin schwimmen können. Ich habe Vögel getroffen, die noch viel weiter geflogen sind. Sie erzählen von Kälte, die den Körper lähmt. Von weißem Sand, der vom Himmel fällt. Die weite Welt ist nicht ungefährlich, kleiner Pavian. Du musst vorsichtig sein, wenn du dich dort hinaus wagst. Du musst vertrauen können und deine alten Erwartungen aufgeben. Nur dann schaffst du es da draußen nicht unterzugehen.“


Der Pavian und auch die Giraffe lauschten den Worten des Adlers gespannt. Noch immer war der Blick des Adlers in die Ferne gerichtet. „Ich mag deine Neugierde, kleiner Pavian. Es ist toll, wie du zu deinem Freund hältst, Giraffe. Ich habe euch schon eine ganze Weile aus der Luft beobachtet. Wisst ihr, zusammen könnt ihr es schaffen. Wenn ihr die Welt da draußen einmal gesehen habt, lässt sie euch nie wieder los. Vergesst nur für einen Moment eure Sorgen und Ängste und lauft los. Wenn ihr zurückkommt, seid ihr reicher als der König der Tiere und weiser als die Alten.“




Mit diesen Worten spannte der Adler seine Flügel auf und machte einen Satz nach vorne. Elegant ließ er sich in die Tiefe der Schlucht gleiten, machte einige Flügelschläge und war bald nur noch als kleiner Punkt am Horizont zu sehen. Der kleine Pavian rutschte am Hals der Giraffe hinunter und legte sich auf ihren Rücken. „Du, kleiner Pavian, meinst du es ist wahr, was der Adler sagt?“, fragte die Giraffe leise. „Vielleicht, ich weiß es nicht, Giraffe.“, antwortete der Pavian. „Es ist schön diesen Moment mit dir zu teilen“, fügte er hinzu und schmiegte seinen Kopf an das Fell seiner Freundin. Und so standen sie noch lange vor der großen Schlucht. Erst als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, machten sie sich langsam auf den Rückweg. Die Worte des Adlers verfolgten den Pavian. Er träumte von Bäumen größer als Berge, von einer fernen Welt, von einem großen Abenteuer. Er klammerte sich ein wenig fester an das Fell der Giraffe und wusste in diesem Moment, dass seine Träume wahr werden würden.